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Unser Sohn Ferdinand* kam im Oktober 2000 mit einem schweren angeborenen Herzfehler, einem Hypoplastischen Linksherzsyndrom (HLHS), zur Welt. Nachdem er die drei Norwood-Operationen mit drei Jahren hinter sich gebracht hatte, begann die Suche nach einem geeigneten Kindergarten. Schwierig waren hierbei nicht nur die körperlichen Besonderheiten wie geringe Belastbarkeit, Infektanfälligkeit, Medikamenteneinnahme etc., sondern für uns alle mindestens genauso belastend  Ferdinands geistige Entwicklung. Aufgrund einer langen Reanimation über 45 Minuten (Herz-Kreislauf-Versagen drei Tage nach der Norwood I-OP) zeichnete sich eine deutliche Entwicklungsverzögerung ab, die mit fehlender Sprache, stereotypen Verhaltensweisen, Verlustängsten und anderen Anzeichen von Traumatisierung, die durch die Krankenhausaufenthalte einherging.

Ferdinand bekam einen Platz in einem Integrationskindergarten im  Nachbarort, wo er zusammen mit drei anderen Integrationskindern in einer Gruppe von insgesamt 18 Kindern vier Jahre lang sehr liebevoll betreut und gefördert wurde. Das Miteinander all dieser Kinder beeindruckte mich damals sehr. Dass alle Kinder – ob mit oder ohne Behinderung – voneinander lernen können, das schien uns ein guter Weg und der richtige für unseren Sohn zu sein.

Die Einschulung kam näher und mit ihr die Frage: Welche Schule ist die richtige für Ferdinand? Es wurde ihm ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung attestiert. Danach sollte er in eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung gehen. Da Ferdinand durch seinen Herzfehler ebenfalls eine Körperbehinderung hat, wäre auch eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Körperliche Entwicklung möglich gewesen. Eine dritte Alternative bot eine Heilpädagogische Waldorfschule, eine Privatschule, die mehr als 30 km von unserem Wohnort entfernt liegt. Unser Kinderarzt sah Ferdinand  hingegen als Integrationskind in unserer Regelgrundschule am Ort.

Bereits ein Jahr vor Ferdinands Einschulung haben wir uns alle Schulen angesehen und z.T. auch hospitiert. Die Schwierigkeit bestand darin, dass Ferdinand „in keine Schublade passt“. Er hat von allem etwas. Der Kindergarten hatte uns gezeigt, dass er sich sehr viel von den anderen Kindern der Gruppe abguckt, aber dass er auch seinen Rückzugsort braucht und eine sehr individuelle Betreuung, um überhaupt lernen und sich weiterentwickeln zu können. So kam unsere Regelschule schon nicht mehr in Frage, denn außer wenigen zusätzlichen Stunden pro Woche mit einer sonderpädagogischen Fachkraft wäre er zu sehr auf sich gestellt gewesen. Körperlich sowieso sehr klein und nicht sehr belastbar, sahen wir ihn schon in der Außenseiterrolle. Das wollten wir ihm nach all den schlimmen Erfahrungen im Krankenhaus ersparen.

Zu diesem Zeitpunkt erfuhren wir von einem Schulmodell in unserem Landkreis, das uns neue Möglichkeiten aufzeigte: Das sogenannte Kooperationsmodell der Förderschule Schwerpunkt Geistige Entwicklung mit einer Regelschule, das es seit mehr als 10 Jahren im Landkreis Harburg gibt. Eine Kooperationsklasse der Förderschule Schwerpunkt Geistige Entwicklung wird an einer Regelschule untergebracht und arbeitet mit einer Regelschulklasse ihres Jahrganges zusammen. Das bedeutet u.a., dass beide Klassen benachbarte Klassenräume haben – an einigen Schulen geschickt mit einer Durchgangstür verbunden -, die dem Bedarf der jeweiligen Schüler angepasst sind. So sind z.B. die Klassenräume der Förderschüler behindertengerecht und mit einer Küchenzeile ausgestattet. Der Stundenplan beider Klassen wird aufeinander abgestimmt und beide Klassen werden in möglichst vielen Fächern zusammen unterrichtet. Es wird gemeinsam an einem Thema gearbeitet, die Förderschüler bekommen ihre Aufgaben entsprechend ihrer Fähigkeiten von den Förderschullehrern gestellt. Gleichzeitig ist durch die getrennten Klassenräume aber auch getrennter Unterricht möglich, wenn die Regelschulklasse z.B. Klassenarbeiten schreibt, Übungszeit angesetzt ist oder die Schüler mit Behinderungen ihren Rückzug brauchen. Für Ferdinando war das genau die Art des Lernens, mit der wir im Kindergarten schon so positive Erfahrungen gemacht haben. Die kleine Schülerzahl von 6-8 Schülern in der Förderschulklasse und in der Regel ein Regelschullehrer, ein Förderschullehrer und ein Erzieher im Kooperationsunterricht, dazu die Schüler der Partnerklasse und das gemeinsame Lernen, das alles kommt ihm sehr zu Gute.

Seit der ersten Klasse besucht Ferdinand nun die Förderschule in einer Kooperationsklasse. In Klasse 5 wechselte er in eine Parallelklasse seiner Schule, die mit einer anderen Klasse gleicher Stufe aus der Integrativen Gesamtschule (IGS) kooperiert. Auch dort habe ich hospitiert und war beeindruckt, wie selbstverständlich und ruhig 30 (!) Gesamtschüler und sechs Förderschüler an Tischgruppen gemeinsam arbeiten. Dieses Tischgruppenmodell ist eine Besonderheit an der IGS, da hierzu auch Tischgruppenelternabende gehören, die dem besonderen Austausch von Eltern und Schülern dienen.

Als Beispiel für den Kooperationsunterricht skizziere ich hier einen Ausschnitt aus dem Block „Projektzeit“, bei dem ich hospitieren konnte: Zurzeit wird dort das Thema „Spannende Wissenschaftler und ihre Arbeiten“ behandelt. Dazu werden folgende Stationsthemen angeboten:

  • Leonardo da Vinci – Künstler, Forscher, Universalgenie
  • Geschichtswissenschaftler – Kriminalkommissare, die in der Vergangenheit ermitteln
  • Dinge, die die Welt verändern
  • Wie SPRACHE WISSENschaft
  • Auszeichnungen, Doktortitel und richtig Kurioses
  • Orte der Wissenschaft – Von dickem Eis bis 20 Meter Tiefe
  • Gefahren – Wettlauf zum Südpol

und einige Zusatzstationen. Alle Themen beinhalten ein umfangreiches Aufgabenangebot, aus dem sich die Schüler bedienen. Die Kooperationsschüler erhalten dabei neben persönlicher Unterstützung eben auch differenzierte Aufgaben.

Ein Beispiel, das die Differenzierungen aufzeigt: Eine Zusatzstation besteht darin, Zeitungsartikel der „Wissen“-Seite des Hamburger Abendblattes verschiedenen Oberbegriffen zuzuordnen. Dies kann sowohl über das Lesen als auch das Betrachten der Bilder (Tiere, Menschen, Technik) erfolgen. An allen Stationen kann somit entweder auf sehr abstrakter-sprachlicher Ebene oder eben auf konkret-gegenständlicher Ebene gearbeitet werden. Alle Schüler arbeiten auf ihrem Lernniveau an einem Unterrichtsgegenstand.

Inzwischen ist  Ferdinand in der 8. Klasse, er fühlt sich sehr wohl und wir können sagen, dass dieses Koop-Modell für ihn eine gute Möglichkeit der Beschulung ist. In Bezug auf seine Herzerkrankung haben wir hier ebenfalls eine Sorge weniger, denn Ausfallzeiten durch Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte können problemlos aufgefangen werden, der Lehrstoff wird immer dem jeweiligen Lern- und Leistungsstand angepasst.

Natürlich birgt auch das Kooperationsmodell nicht nur Vorteile:

Die Umsetzung des Konzeptes steht und fällt wie in jeder Schulform mit den jeweiligen Klassenteams. Jede Unterrichtsstunde erfordert von allen Beteiligten viel Vorbereitung und Organisation. Der Stundenplan ist straff und verlangt nicht nur von den Förderschülern ein hohes Maß an Konzentration. Und nicht zuletzt muss auch von den Schülern der Regelschulklasse die Bereitschaft vorhanden sein, gemeinsam mit den Förderschülern zu lernen – mit allen Vor- und Nachteilen.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dieses Modell eine Chance für die Herzkinder darstellen kann, die „in keine Schublade passen“!

*Name geändert