„Sie müssen unbedingt herkommen und ihn sich ansehen, er ist ein ganz Süßer! Wirklich, es lohnt sich!“ … Ich denke die ganze Zeit an genau diese Worte der Stationsärztin bei unserem ersten Telefonat. Wir haben knapp zwanzig Minuten telefoniert. Zwanzig Minuten später, es fühlte sich an wie bei diesen Verkaufsshows: Es ist völlig verrückt, aber irgendwie musst du dich auf den Weg machen. Nun war ich auf dem Weg, einmal quer durch Deutschland 600 km – von Schleswig-Holstein nach Thüringen, morgens um vier los, abends wieder zurück, 1.200 km an einem Tag, alleine. Einfach einmal gucken, versuchen zu spüren ob es passen könnte.
Gelesen hatte ich die Anzeige in der „Mittendrin“, die Mitgliederzeitschrift vom Bundesverband behinderter Pflegekinder. Die Liste der Diagnosen war lang. In der Hauptsache ein DILV* mit einer L-Malposition der großen Arterien*, eine Pulmonalatresie* und hypoplastische* zentrale Pulmonalarterien mit einer Stenose* des linken Hauptbronchus, Foramen bulboventrikulare und eine Nierenagenesie rechts.
Warum ein schwer herzkrankes Pflegekind annehmen?
Gesucht haben wir zu dem Zeitpunkt eigentlich nicht, gesucht haben wir eigentlich nie. Unsere Nachbarin arbeitete beim Jugendamt und nach drei gesunden, leiblichen Kindern bot es sich wohl irgendwie an, uns anzuwerben.
Unser erstes Pflegekind, ein Mädchen mit schwerem FAS* blieb fast 5 Jahre. Dann haben wir alle gemeinsam beschlossen, dass sie in ein heilpädagogisches Kinderheim umzieht und dort auch beschult wird. Diese Entscheidung war meine größte persönliche Niederlage und die beste Entscheidung für unsere Familie – in der Retrospektive auch für unsere Pflegetochter. Sie hat einen unglaublich guten Kontakt zur leiblichen Mutter und den Großeltern aufbauen können. Haley kommt weiterhin einmal die Woche zum Reiten zu uns.
Aaron, unser zweites Pflegekind, war, als ich mich auf den Weg gemacht habe, Erik kennenzulernen, ziemlich genau zwei Jahre alt. Ich hatte vor dem Kreissaal auf ihn gewartet. Er ist gesund und wächst bindungsanalog zu unseren leiblichen Kindern auf.
Wissend um diese Stabilität, habe ich damals erste Hintergrundinformationen zu der Anzeige in der „Mittendrin“ gelesen. Und dann, ein paar Tage später, die Absage. Eine andere Familie wurde ausgewählt. Wieder ein paar Tage später dann doch der Anruf, ich möge mich bei der Stationsärztin melden, die andere Familie habe sich zurückgezogen.
Ein neun Monate alter Junge, der noch nie eine feste Bezugsperson in seinem Leben hatte.
Es nützte nichts, verrückt hin oder her – ich musste einmal in die Klinik fahren, um mein Herz zu fragen. Ich bin überzeugt, dass es eines ganz besonderen Zauberfunkens bedarf, der überspringen muss, wenn ein solches Projekt eine Chance auf Erfolg haben soll. Auf dem Parkplatz der Klinik überfiel mich plötzlich die Panik, ich hatte das Gefühl ganz alleine der Uniklinik gegenüber zu stehen, nur langsam und ungewohnt unsicher konnte ich mich der kardiologischen Intensivstation nähern. Klingeln, warten und plötzlich hatte ich das Gefühl, als grünes Männchen auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Uns trennte nicht nur die Sprache … Ich war die aus dem Westen, die die Mutti von Erik werden wollte! – „die Mutti von Erik?“, wollte ich das? Konnte ich das?
Ich hatte Erik noch nie in meinem Leben gesehen. Nur ein paar Schritte noch, einen Kittel, Mundschutz und Handschuhe, auf einer kinderkardiologischen Intensivstation einen neun Monate alten Jungen besuchen, der noch nie eine feste Bezugsperson in seinem Leben hatte, nie auf einer Krabbeldecke gelegen hat, nicht im Kinderwagen an der frischen Luft spazieren gegangen war.
Das Krankenhaus war Eriks Zuhause, seine Heimat
Ein paar unsichere Schritte hinter der Krankenschwester, ein paar belanglose Smalltalk Worte und plötzlich spürte ich, dass eine ganze Intensivstation die letzten Monate wirklich alles gegeben, ihrem Stationsbaby alles in ihrer Macht stehende getan hatte, um Erik überhaupt erst eine Zukunft zu ermöglichen. Meine Hochachtung gebührt bis heute diesem Team der Uni Klinik. Erik lag, perfekt mit Spielzeug ausgestattet und in einer Geborgenheit, wie ich sie nie wieder in einem Krankenhaus gefunden habe, zufrieden in seinem Bett. Ich merkte sehr schnell, dass Erik nicht einfach in einem Krankenhaus lag, das hier war sein Zuhause, seine Heimat, alles was er bis jetzt überhaupt kennengelernt hatte. Nach Gesprächen mit dem Jugendamt vor Ort, umfangreichen Gesprächen mit den Ärzten und Schwestern auf der Station begann eine sehr intensive Kennlernzeit.
Zweimal eine Woche war ich in Jena vor Ort, um mich sehr genau mit seinem Alltag vertraut zu machen. Ein großes Problem zu der Zeit war Eriks Highflow-Beatmung, auf die er angewiesen war. Leider gab es damals noch keine Möglichkeit einer mobilen Highflow-Beatmung, sodass wir zuhause nicht in der Lage gewesen wären, mit ihm Ausflüge an die frische Luft zu unternehmen. Durch die großartige Unterstützung und den Erfindergeist eines wunderbaren Medizintechnikers konnte auch dieses Problem nach ein paar Wochen Geduld gelöst werden. Ich habe durch meinen Beruf als Rettungsassistentin einen großen Vorteil in der medizinischen Routine gehabt. Dennoch bin ich bis heute tief beeindruckt, mit welcher Hingabe so viele Menschen mit großartigem Engagement am Wohlergehen von Erik gearbeitet haben.
Endlich: ein Arztbegleiteter Intensivtransport brachte Erik nach Hause
Am 20. September 2016 war es endlich soweit, ein Arztbegleiteter Intensivtransport brachte uns von Thüringen direkt nach Hause. Fast sechs Stunden Fahrt, auf denen man Erik die Aufregung und Strapazen deutlich anmerkte. Es brauchte schon eine gehörige Portion Mut und noch mehr Gottvertrauen, an ein Happy End zu glauben.
Erik war zu dem Zeitpunkt noch 24 Stunden Monitor überwacht, Highflow-beatmet und wurde komplett über eine Magensonde ernährt. Er konnte weder den Kopf sicher halten, noch sitzen oder gar krabbeln. Und dennoch war er mit einer solch mitreißenden Lebensfreude und einer extrem hohen Erwartungshaltung an seine Umwelt ausgestattet. Zuhause angekommen, mussten wir sehr schnell lernen, dass Eriks medizinische Versorgung stets auf einem sehr hohen Level laufen muss.
Wir lernten, mit einer zumindest latenten und dennoch permanenten vitalen Bedrohung zu leben.
Wir bekamen nicht nur großartige Unterstützung von meinen Schwiegereltern, die noch nie einen Unterschied zwischen leiblichen und Pflegekindern machten. Ein Kinderintensivpflegedienst steht uns bis heute zur Seite. Wir als Familie mussten sehr viel in kürzester Zeit lernen. Es war nicht die medizinische Versorgung, nicht die Pflege – hier half uns die Erfahrung als Eltern und die im beruflichen Alltag. Nein, wir mussten lernen mit einer zumindest latenten und dennoch permanenten vitalen Bedrohung zu leben. Mit der Gewissheit, dass das, was wir hier alle zusammen versuchen, auch jederzeit zu Ende sein kann. Eine Tatsache, die ich zwar von Anfang an gewusst habe, da Erik einen Herzfehler hat, der „nur palliativ“ operiert wird. Aber die psychische Belastung habe ich ganz klar unterschätzt. Mein Blick war vor der Aufnahme eher auf die medizinische Versorgung ausgerichtet. Im Alltag angekommen, haben wir sehr schnell ein bis heute bestehendes und sehr tragfestes Netz aus Pflegedienst, Haushaltshilfe, Kinderarzt vor Ort, Kardiologin, Herzzentrum, Physio- und Atemtherapeutin, Frühförderin, Großeltern und Patentanten aufgebaut. Von Anfang an habe ich sehr darauf geachtet, dass jeder auch wirklich bereit ist, unseren Weg für Erik auch mit dem Herzen zu begleiten. Es hat ein paar Arztwechsel und Anläufe gebraucht, bis alles so zurecht gerüttelt war, dass es auch in Belastungssituationen gehalten hat.
Im Herzzentrum wurde das volle Ausmaß seines Hospitalismus deutlich.
Im Dezember 2016 wurde im kinderkardiologischen Herzzentrum erneut ein Herzkatheter gemacht und in Folge dessen festgestellt, dass die Situation der Lungengefäße die stabilisierende Hemifontan*-OP immer noch nicht zulässt. Sicher war es ein guter Entschluss, weiter abzuwarten. Für uns als Familie bedeutete es allerdings, weiter auf der medizinischen Rasierklinge zu sitzen. Als Erik zum Herzkatheter im Herzzentrum lag, wurde auch das erste Mal das volle Ausmaß seines Hospitalismus durch den langen Krankenhausaufenthalt deutlich. Erik fiel wieder komplett zurück, ließ sich nicht mehr ablegen, schlug mit dem Kopf und brauchte ein fast unaufbringbares Maß an Aufmerksamkeit und Zuneigung. Zu diesem Zeitpunkt lernte Erik in der Klinik auch seinen zukünftigen Papa Thomas kennen. Erik war knapp ein halbes Jahr in unserer Familie, da beschlossen mein Ehemann und ich nach 20 Jahren unsere Trennung. Immer eine riesige Kraftprobe, bei fünf Kindern und mit Eriks Krankheitsbild eine Mammutaufgabe, die wir aber alle gemeinsam großartig gelöst haben.
Sicherlich wollen wir alle für unsere Kinder stets nur das Beste, gleichwohl ist niemand gefeit vor den ganz regulären Aufgaben und Problemen im Leben. Für Thomas ist Erik das erste Kind. Plötzlich gibt es jemand, für den er, genauso wie er ist, die absolute Nummer eins ist. Ein großes Glück und eine unerschöpfliche Ressource für den Alltag. Mein Ehemann und seine Eltern sind als Freund und Großeltern geblieben und bis heute eine nicht wegzudenkende Stütze im Alltag. Mir wurde im April 2017 die Vormundschaft zugesprochen. Ein, wie ich finde, sehr wichtiger Schritt für ein stabiles, authentisches Bindungsgefüge.
Die Kollegen vom Rettungsdienst trugen Eriks Besonderheiten situativ und bedingungslos mit.
Im Juni 2017 haben wir es dann in einem langwierigen und anstrengenden Weaning*-Prozess geschafft, ihn von der Highflow-Beatmung zu entwöhnen, eine Grundvoraussetzung für den nächsten, Hemifontan-OP Schritt. Als unvorhergesehene Schwierigkeit erwies sich seine Neigung zu eigentlich harmlosen Pseudokrupp-Anfällen. Leider brachten ihn diese Anfälle jedes Mal so an den Rand seiner Möglichkeiten zur Kreislaufkompensation, dass wir bis heute ein paarmal auf den Rettungsdienst zurückgreifen mussten. Auch hier haben wir immer wieder das Glück gehabt, auf Kollegen zu treffen, die Eriks Besonderheiten situativ und bedingungslos mitgetragen haben. Viele Auf und Ab´s folgten, ein paar Momente in denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass es überhaupt weitergehen kann, dass unsere Kraft reicht. „Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse“ (Sabine Zinkernagel, 2012) wurde unser Motto.
Nicht ohne gesprächsbereite Freunde, großartige Ärzte, die Krankenkasse….möglich!
Ein Pflegedienst, der ständig Dienste abgesagt hat, ein Kinderarztwechsel, eine Großgemeinde, die nicht über einen einzigen integrativen Kindergartenplatz verfügt, ein EKG-Monitor, der ständig Fehlalarme produziert und das vornehmlich nachts zwischen 2 und 4 Uhr, Freunde die nicht verstehen konnten, warum wir uns für ein „fremdes Kind“ so belasten, …
Auf der anderen Seite standen aber Großeltern, Patentanten, empathische, immer gesprächsbereite Freunde, großartige Ärzte, die Krankenkasse, die bis heute perfekt kooperiert, einfallsreiche Pflegekräfte, ein immer verlässlicher Exmann und die Geschwister, die immer wieder bereit waren, ein Stückchen mehr von Allem aufzubringen und zu akzeptieren – seien es Geduld, Liebe oder auch vollgesabberte Trinkgläser, unbrauchbar gewordenes Spielzeug oder frieren im Dunkeln, um dem Rettungsdienst den Weg zu unserem Hof zu weisen. Danke dafür!
Entwöhnung von der Magensonde – ein schwieriger Prozess
Am 5. Februar 2018 konnte Erik erfolgreich im Herzzentrum operiert werden. zehn Tage extremste Anspannung und erneut starker Hospitalismus. Aber auch das haben wir alle als Team zusammen gemeistert. Die Fontankomplettierung steht nun noch Ende diesen Jahres aus. Wohl wissend um den Umstand, dass in Erik nur eine pumpende Herzkammer schlägt, haben die letzten Monate unglaubliche Fortschritte und im Familiensystem viel Entspannung gebracht. Erik spricht Drei-Wortsätze und läuft erste Schritte alleine. Auf ein Monitoring kann weitestgehend verzichtet werden. Einen Kindergartenplatz, unter Begleitung einer Kinderkrankenschwester, haben wir nun endlich seit Februar 2019. Die täglichen Inhalationen sind zur Routine geworden. Erik und Thomas haben es Ende Juli 2018 mit großem gegenseitigen Vertrauen in Eriks Fähigkeiten geschafft, ihn von der Magensonde zu entwöhnen. Ein sehr schwieriger Prozess, Erik war vom ersten Lebenstag an mit einer Magensonde versorgt und hatte leider nie zu essen gelernt. Er konnte weder Hunger noch Durst zuordnen. Es brauchte eine große Portion Mut, die ich leider nicht so einfach aufbringen konnte. Heute, gut zwei Monate nachdem wir die Sonde gezogen haben, isst er fast alles und auch zumindest in ausreichenden Mengen.
Mit Erik lernten wir, was wirkliches Glück bedeutet
Rückblickend kann ich nur sagen, wir alle haben durch Erik gelernt, was wirkliches Glück bedeutet und dass auch die außergewöhnlichsten Lebenswege großartige Ressourcen bergen können. In unserem Fall musste ein stabiles Familiensystem, Fachwissen, viel Liebe und Achtsamkeit mit medizinischer Versorgung und modernster Herzchirurgie verknüpft werden.
An den Punkt, an dem wir heute sind, in ein ruhiges, ziemlich sicheres Fahrwasser, konnten wir es nur alle gemeinsam schaffen – Danke dafür!
*DILV = Double Inlet Left Ventricle (DILV): beide AV-Klappen oder eine gemeinsame AV-Klappe münden in die linke Herzkammer.
* Pulmonalatresie: Verschluss der Pulmonalklappe und damit erhebliche Unterentwicklung der rechten Herzkammer.
* hypoplastisch: schwach entwickelt.
* Stenose: Verengung
* FAS = Fetales Alkohol Syndrom mit häufig körperlichen und geistigen Schäden, Fehlbildungen und Mangelentwicklung.
* Hemifontan: Nach der Fontan-OP der zweite von drei OP-Schritten, bei dem eine Verbindung zwischen der oberen Hohlvene und der rechten Lungenarterie geschaffen wird.
* Weaning: Entwöhnen