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Ralf Pittner wurde 1968 als das jüngstes von fünf Geschwistern mit einem schweren Herzfehler geboren. Nach einer Nottaufe wurde er auf die Intensivstation einer Kinderherzklinik überwiesen.

 

Herr Pittner, bitte erzählen Sie uns von Ihrer außergewöhnlichen Mut-mach-Geschichte.
Ich wurde 1968 als das jüngstes von fünf Geschwistern mit einem schweren Herzfehler geboren. Nach einer Nottaufe wurde ich auf die Intensivstation einer Kinderherzklinik überwiesen. Die Diagnose lautete: TGA (Transposition der großen Gefäße), die entsprechende Behandlungsempfehlung: OP (Operation) nach Mustard. Aber das war damals in Deutschland noch nicht möglich und so musste ich vier lange Jahre auf die alles entscheidende OP am offenen Herzen warten. Bis dahin war ich ein sogenanntes „blaues Kind / blue baby“, litt unter Sauerstoffmangel und Gedeihstörungen, war immer untergewichtig. Oft musste ich mit dem Notarztwagen in die Kinderherzklinik gebracht werden. Wie viele Herzkatheter in der Zeit notwendig waren, weiß ich gar nicht mehr! Damals waren Besuche der Eltern auf eine Stunde pro Tag beschränkt. Nur weil ich so oft stationär war, wurde hin und wieder eine kleine Ausnahme gemacht. Meine Geschwister durften mich nur durch eine Glasscheibe sehen. Das ist bis heute eine ganz schreckliche Erinnerung.

Dass ich bis zum Eingriff 1972 in London überhaupt überlebte, war laut den Ärzten ein Wunder! Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Die ständigen Arztbesuche und Klinikaufenthalte waren für meine 7-köpfige Familie sehr aufreibend und meine Geschwister mussten sicher oft zurückstehen. Ich hatte zuhause eine Sonderrolle, ohne dass mir das damals bewusst gewesen wäre. Wie mir auch viele schwere Erlebnisse erst wieder gewahr werden, wenn ich Fotos von früher ansehe oder mit meinen Geschwistern über alte Zeiten spreche. Meine Mutter ist früh gestorben, mit ihr kann ich leider keine Erinnerungen mehr austauschen.

Der Einfriff 1972 in London hat tiefe Spuren hinterlassen.
Die Operation und der Aufenthalt in der Londoner Klinik „Hospital for sick children“ haben tiefe Spuren bei mir hinterlassen. Die fremde Sprache, der auch meine Mutter nicht mächtig war, die Gerüche und vor allem das Piepsen der Herz-Lungen-Maschine (HLM) und der anderen medizinischen Geräte ist mir heute noch ein Grauen!

Nach der Operation fühlte ich mich erst einmal besser, aber ich bin zu schnell gewachsen und die Nähte rissen auf. Also musste ich 1976 nochmals nach London zur zweiten OP am offenen Herzen.

Ein Lichtblick war Hugo, ein englischer Junge mit deutschem Vornamen, mit dem ich mich anfreundete . Er hatte fast den gleichen Herzfehler und durch ihn wurde mein Klinikalltag bunter und freundlicher. Einen Tag vor mir wurde er in den OP gebracht. Wir haben uns inniglich verabschiedet. Seine Familie hatte Verbindungen zum englischen Königshaus und versprach, uns bald zum Tee einzuladen. Aber daraus wurde nichts – er sollte nicht mehr wiederkommen!!

Das waren natürlich üble Voraussetzungen für meine OP am Folgetag. Ich hatte große Angst und wurde ohne jegliche Zuversicht an der OP-Schleuse verabschiedet. Doch die OP glückte!

Als wir aus London zurück waren, kehrte kein Alltag zuhause ein. Unser Vater verließ uns bald, er hielt wohl den Dauerbelastungen nicht stand. Er terrorisierte uns sogar, sodass wir keinen Kontakt mehr zu ihm hatten, bis er 1997 verstarb. Meine Mutter musste zwar viel arbeiten und war zuhause zu wenig präsent, hat mich aber bei allen Untersuchungen und Eingriffen -und das waren nicht wenige- begleitet und gestärkt.

In der Schule fühlte ich mich immer ausgegrenzt. Selbst meine Freunde sagten mir beim Sport: „Du musst verstehen, dass wir dich nicht in unsere Mannschaft wählen, wir wollen ja schließlich gewinnen“. Ich hätte so gern mitgemacht, beim Fußball oder beim Judo, aber auch da war ich immer außen vor. Ich wurde „Herzkasper“ gerufen, das hat mich sehr verletzt. In der Klasse hatte ich es nicht leicht und während der Ausbildung wurde es nicht besser. Ich kam mit Freunden am besten zurecht, die 10 und mehr Jahre älter waren als ich. Das ist bis heute so, ich fühle mich bei ihnen verstanden und ernst genommen.

Meine Eltern reisten mit mir einige Tage vorher an – wir sind mit der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Heathrow geflogen, die dann im Oktober 1977 durch palästinensische Terroristen entführt wurde. Ich durfte sogar im Cockpit dieser geschichtsträchtigen Maschine sitzen! Vage kann ich mich auch erinnern, dass wir die Wachablösung vor dem Buckingham Palace besuchten.

 

Danach wurde es weniger erfreulich: wieder in einem fremden Land in einer fremden Klinik mit einer fremden Sprache! Da halfen die OP-Vorbereitung und emsigen Pflegerinnen wenig, wir haben nämlich nichts davon verstanden. Ich hatte entsetzliches Heimweh, über das auch meine Mutter mir nicht hinweghelfen konnt,
Als Jugendlicher litt ich zusehends unter meiner riesigen Narbe quer über den ganzen Brustkorb. Im Schwimmbad wurde ich angestarrt, ich fühlte mich wie ein Aussätziger. Das war schwer zu ertragen, ich fühlte mich schlecht und einsam. Dass das eine Depression war, war mir damals gar nicht bewusst. Genauso wie ich erst später erkannt habe, wie tief mich viele andere Einschläge getroffen hatten.
Kurz vor meinem 18. Geburtstag fand ich meine Mutter, die einen Herzinfarkt hatte. Sie kam in die Klinik, ist aber leider bald darauf verstorben. Sie wollte schon, nachdem uns mein Vater verlassen, mehrmals ihrem Leben ein Ende setzen. Ich hatte sie jeweils rechtzeitig gefunden, aber es hat mich nachhaltig verstört. Danach habe ich die regelmäßigen Kontrollen in der Klinik schleifen lassen und „lebte mein Leben“.

Depressive Phasen wechselten sich ab mit schönen Zeiten: vor 30 Jahren lernte ich meine liebe Frau kennen. Ihr gegenüber bin ich von Anfang an offen mit meiner Herzerkrankung umgegangen. Sie wusste also, worauf sie sich einließ. Wir bekamen unsere inzwischen 19-jährige Tochter Jana.

Während der Schwangerschaft plagten uns große Ängste, dass unser Kind auch einen Herzfehler haben würde, zumal bei meiner Frau sehr wenig Fruchtwasser festgestellt wurde. Ich habe meine Abneigung gegen Krankenhäuser überwunden und war beim Kaiserschnitt im OP-Saal dabei. Unsere Tochter kam kerngesund zur Welt, eine große Freude!! 2020 hat sie ihr Abitur gemacht und wohnt noch bei uns zuhause.

 

Vor fünf Jahren bekam ich Probleme mit dem Herzen, hatte ständig hohen Puls. Ich wurde am Donnerstagnachmittag als Notfall ins regionale Krankenhaus eingeliefert. Als ich nach den geplanten Untersuchungen fragte, hieß es lapidar: Donnerstagnachmittag ist wie Freitag“. Bis Montag geschah nichts!! Ich habe mir eine Untersuchung regelrecht erstritten und wäre dabei fast vom Fahrradergometer gefallen! Als ich wieder in meinem Krankenzimmer lag, hörte meine Frau zufällig, wie die Ärzte sich auf dem Flur unterhielten: „Der Mustard im Zimmer, damit kennt sich hier doch keiner aus!“ Gottseidank wurde ich bald in „meine Kinderherzklinik“ überwiesen und dort entsprechend behandelt. Seither bin ich dort wieder regelmäßig in der EMAH-Sprechstunde in Behandlung.

Als ich 1999 die Diagnose Hautkrebs an der rechten Fußsohle bekam, sagte der untersuchende Hautarzt zu mir, dass er nicht wüsste, ob man da noch etwas machen kann. Aber ich solle mir keine Gedanken machen und nach Hause fahren. Das Bett in der Klinik wäre in drei Tagen für mich reserviert. Das war für mich mit meiner Vorgeschichte und meiner „Krankenhausphobie“ natürlich nicht gerade ermunternd!

Wenn ich bei Krankenhausbesuchen, die ich so gut es geht vermeide, durch piepsende Medizingeräte an meine Zeit an der HLM erinnert wurde, bin ich heulend rausgelaufen. Die endlosen Wochen in den Krankenhäusern konnte ich nicht abschütteln, sie verfolgen mich bis heute. Vor allem bei den Bildern in den Medien seit Beginn der Corona-Pandemie werden immer wieder meine Ängste aufgewühlt. Krankenhaustypische Geräusche, wie piepsende Monitore oder Sirenen der Krankenwagen gehen mir durch Mark und Bein.

Mit meinem Bericht möchte ich anderen herzkranken Erwachsenen Mut machen und freue mich über Kontakt zu Gleich-Betroffenen. Auch wenn mein Weg lang und nicht leicht war, lohnt es sich zu leben. Meine Mitmenschen sind voller Bewunderung, was ich schon alles geschafft habe, aber ich sehe mich eher als den kleinen, kranken Mann. Für die Stärkung und Begleitung meiner Familie bin ich sehr dankbar. Vor allem bedanke ich mich von Herzen bei meiner Frau, mit der ich seit 1991 zusammen bin und die es nicht immer einfach mit mir hat(te).